Wider die Ges(ch)ichtslosigkeit – Fotoprojekte mit suchtkranken Menschen

Der österreichischen Fotograf Georg Oberweger hat mit suchtkranken Menschen einen Workshop „Fotografische Suche nach einem Bild vom Selbst“ für den „Grünen Kreis“ durchgeführt.

Der Verein „Grüner Kreis“ steht für die Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen und bietet als führende Einrichtung in Österreich bei Abhängigkeitsproblemen rasche und professionelle Hilfe. In Zusammenarbeit mit professionellen KünstlerInnen werden in den stationären Einrichtungen Workshops angeboten, in denen KlientInnen die Vielfalt von Kunst kennen lernen. Sie sollen ihre individuellen Fähigkeiten entdecken und die Möglichkeiten und Freiräume der Kunst für eine konstruktive und lustvolle Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Lebens nutzen. In diesem Kontext hat

(c) Georg Oberweger

Dabei entstehen immer wieder interessante Kunstwerke, die oft einprägsam die schwierigen Lebenssituationen zum Ausdruck bringen. Ein wichtiges Anliegen von Kunst im Grünen Kreis ist die Veröffentlichung und Präsentation der Arbeiten. Mit den Mitteln der Kunst soll so ein Diskurs zu den gesellschaftlich noch immer tabuisierten Themen Sucht und Drogen initiiert werden.

Überraschenderweise zeigen die in dem Workshop entstandenen Fotos eines nicht: Die Gesichter der Portraitierten.
Kurt Neuhold, bildender Künstler und Leiter von „Kunst im Grünen Kreis“ skizziert aus seiner Sicht wie es dazu kam:


 

Seit 2012 werden in den Betreuungshäusern Fotoworkshops mit dem Fotografen Georg Oberweger realisiert. Das Thema der Workshops ist „eine fotografische Suche nach einem Bild von sich selbst“. Bei der mehrtägigen Arbeit bekommen die TeilnehmerInnen Grundkenntnisse über das Medium Fotografie, die Möglichkeiten der Bildgestaltung und die Auswahl der Motive. Die Arbeit mit der Kamera, der Blick durch den Sucher soll helfen, die eigene Sicht auf die Welt zu entdecken und durch das bewusste Gestalten von Bildern sichtbar zu machen. Der Fokus liegt also auf der Produktion von fotografischen Dokumenten dieser Sichtweisen und, zum Leidwesen vieler Technikfreaks, weniger auf der Fototechnik und den Tipps und Tricks für Bildbearbeitung. Für viele ungewohnt ist das Fotografieren mit einfachen Analogkameras. Die auf maximal 24 Bilder pro Kamera begrenzte Anzahl erzwingt jedoch eine sorgfältige Vorbereitung, Planung und überlegte Auswahl der Bildmotive, um die Aufgabe, mit maximal 6 ausgewählten Bildern eine Geschichte von sich zu erzählen, realisieren zu können.

Diese Reduktion intensiviert und konzentriert das Sehen und die Wahrnehmung. Der Blick auf die Natur, die Umgebung, die Mitmenschen, auf sich selbst wird geschärft. Überraschende Entdeckungen werden möglich. Die Frage, was sich durch den Workshop verändert hat und was sie für sich mitgenommen haben, beantworteten mehrere TeilnehmerInnen mit: „… die Art, wie ich Dinge betrachte“; „dass ich mit der Natur im Einklang bin,…“, „…überrascht, was es in meiner Umgebung alles zu sehen gibt“, „…hab viel Neues entdeckt“, und „… dass ich mit Fotografien eine Geschichte erzählen kann.“, „… dass ich mit Fotos Sachen sagen kann, was mit Worten nicht geht“.

Georg Oberweger fertigte mit den TeilnehmerInnen sehr persönliche Fotogeschichten und ungewöhnliche Portraitfotos an.

Fotogeschichten

Vier bis sechs Fotos untereinander gereiht, vermitteln – ähnlich wie das Storyboard eines Films – eine besondere Geschichte. Die „Filmsequenzen“ vom Fotoworkshop erzählen in berührenden, beeindruckenden Bildern von Menschen und ihrer Suche und Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Lebens. Manchmal symbolisieren Bilder aus der Natur – umgestürzte Bäume, Wurzeln, bunt gefärbte Blätter, Himmel und Wolken, Nebelstimmungen, Wald, Wasser –  wichtige Abschnitte im Leben. Andere inszenieren für ihre Fotogeschichte lebensnahe Filmszenen mit KollegInnen: Etwa Bilder von Begegnungen und Abschieden, von Streit und Versöhnung. Manche arbeiten sehr reduziert, beinahe abstrakt: Ein leerer Teller, ein verfallenes Haus, ein zerbrochenes Fenster, ein roter Schal, ein schmutziger Löffel, ein Schuh am Fensterbrett, eine Klobrille, ein grauer Fleck…

Viele Fotos dokumentieren eindrucksvoll die Schrecken und Probleme der Suchterkrankung, aber auch die Hoffnung auf eine positive Lebensperspektive durch die Therapie. Bei manchen überwiegen Bilder von Zweifeln und Ängsten. Oft und eindringlich werden das Abschied nehmen, Einsamkeit und Tod thematisiert. Selten oder nur über sehr verschlüsselte Symbole wird von Liebe, Sexualität und Lust erzählt. Ist vielleicht die Sexualität ein großes Tabu, worüber im therapeutisch-stationären Kontext öffentlich nicht gesprochen werden darf?

Diese Fotogeschichten sind sehr persönliche Dokumente einer forschenden und fragenden Suche nach stimmigen Bildern von sich und der eigenen Geschichte. Die Veröffentlichung dieser Suche in einer anonymen, medialen Öffentlichkeit wäre also höchst problematisch. Die Fotografien geben Einblick in eine sehr persönliche Sicht auf die Welt. Die Interpretation dieser Weltsicht ist jedoch von vielen Faktoren abhängig. Denn Fotografie ist nicht nur ein visuelles Ausdrucksmedium, sondern ein hochbrisantes und aktuelles Kommunikationsmittel.

Die meisten TeilnehmerInnen haben wahrscheinlich Erfahrungen mit sozialen Medien, Facebook, Instagram und sonstigen Internetplattformen oder Fotoblogs. Vielleicht konnte der Fotoworkshop darauf aufmerksam machen, dass ein vorsichtiger Umgang mit der Veröffentlichung von persönlichen Fotos in sozialen Medien notwendig ist und der „Wahrheitsgehalt“ von medialen Bildern skeptisch und kritisch hinterfragt werden muss.

Portraitfotografie

Sehr viele Klientinnen in den Betreuungshäusern haben keine oder nur sehr schlechte Fotos von sich und ihrem Leben. Fotografien als Erinnerungsspeicher für den Alltag haben im Leben am Rand der Gesellschaft nur eine geringe Bedeutung. Viele freuen sich deshalb über die bei den Workshops entstandenen Fotos.

(c) Georg Oberweger

Ein „schönes“ Portraitfoto von sich zu bekommen, das möglichst den gängigen Schönheitsvorstellungen entspricht, war und ist ein naheliegender Wunsch der KlientInnen an einen Profifotografen, den Georg Oberweger gern erfüllte. Die Herausforderung, bei den Portraitaufnahmen zusätzlich auch künstlerische Kriterien zu berücksichtigen, bewältigten die TeilnehmerInnen schon beim ersten Fotoworkshop am Treinthof.

Der Begriff Portrait kommt aus dem lateinischen (pro-trahere) und bedeutet vor-ziehen oder ans Licht bringen, auch entdecken oder offenbaren. Ein Portrait soll also das Wesentliche, die Persönlichkeit eines Menschen zum Ausdruck bringen. Da körperliche Ähnlichkeit erwünscht und sinnvoll ist, konzentrieren sich die meisten Portraits auf das Gesicht, auf Kopf und Handhaltung. Vor allem darin spiegelt sich die Einmaligkeit einer Person. Historisch gesehen waren vor allem mächtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bildwürdig. Im Mittelalter auf den Adel und die Kirche beschränkt, konnte mit der sich entwickelnden Gesellschaft bald jedes Individuum portraitiert werden. Die Erfindung der Fotografie hat dieser Entwicklung zusätzliche Dynamik verliehen. Doch trotz dieses leicht zugänglichen Mediums spiegelt und reproduziert sich in der öffentlichen Bilderflut die gesellschaftliche und soziale Ungleichheit.

(c) Georg Oberweger

Wie fotografiert man einen Menschen, dessen Selbstwertgefühl und Würde zum Ausdruck kommen soll, ohne das Gesicht abzubilden? Wie bringt man mit dieser Vorgabe, mit der die Intimsphäre der KlientInnen gewahrt bleiben soll, die Einmaligkeit der Persönlichkeit zum Ausdruck? Mit welcher Geste und Haltung lässt sich dieser Eindruck erzielen?

Auch in den frühesten Darstellungen des Menschen wurde auf die Abbildung des Gesichts als charaktergebender Teil der Person verzichtet; man beschränkte sich auf Standesabzeichen und Symbole. Krone, Zepter und Speer waren beim Fotoworkshop nicht notwendig. Stattdessen entwickelte die Treinthof-Gruppe das Bildsujet der hinter dem Kopf verschränkten Hände, das seither mit den TeilnehmerInnen in allen Betreuungshäusern realisiert wird.

Die Geste „Hände hinter dem Kopf und Ellbogen nach außen“ hat vielfältige Bedeutungen. Diese Haltung muss eingenommen werden, wenn man von der Polizei verhaftet, perlustriert wird. Mit den Händen hinterm Kopf kann man sich nicht wehren, man ist ausgeliefert; eine demütigende Erfahrung, die viele KlientInnen gemacht haben. Manchmal jedoch verschränkt man die Hände hinter dem Kopf, atmet tief durch und entspannt sich – eine Geste des Wohlbefindens. Laut diverser Ratgeber für nonverbale Kommunikation bedeutet das Verschränken der Hände hinter dem Kopf, dass man sich überlegen fühlt, weil man dabei seinen Körper öffnet und durch das Zeigen der Achselhöhle Selbstbewusstsein zeigt und keine Angst hat, angegriffen zu werden. Es wird als sexuell konnotierte Dominanzgeste interpretiert, mit der man Aufmerksamkeit erregen will, die selten bei Frauen, häufig jedoch bei männlichen Vorgesetzten zu sehen ist, die mit dieser Haltung imponieren möchten.

(c) Georg Oberweger

Erstaunlich ist, wie vielfältig und unterschiedlich diese Geste von den TeilnehmerInnen der Fotoworkshops interpretiert wird: Manche deuten sie an oder greifen sich nur mit einer Hand in den Nacken. Andere streichen sich über die Haare. Manchmal ist ein auffälliger Haarschnitt oder ein Schmuckstück der Blickfang und bei vielen verweisen Tattoos im Nacken oder auf Händen und Fingern auf besondere Lebensgeschichten.

Portrait statt Selfie

Obwohl keine Gesichter gezeigt werden, kommt in jeder dieser Fotografien die Einmaligkeit und das Besondere der abgebildeten Persönlichkeiten zum Ausdruck. Damit wird ein wesentliches Kriterium der Portraitkunst erfüllt, jedoch in einer Ästhetik, die den derzeit gängigen Vorstellungen von Bildern überhaupt nicht entspricht. Diese in enger Zusammenarbeit von Georg Oberweger und den KlientInnen sorgfältig inszenierten Bilder stehen konträr zu der Bildsprache der Selfies. Obwohl es auch dabei um den Wunsch nach Sichtbarkeit geht. Die strengen Regeln in der digitalen Welt erlauben jedoch wenig Spielraum. Die Pose muss stimmen, der Augenblick, der lange vorbereitet wird, um möglichst schön, perfekt oder bewusst hässlich auszusehen, soll festgehalten und mit möglichst vielen geteilt werden. Selfies sind gemacht für die Kommunikation im Internet. Sie verraten jedoch oft mehr darüber, ob den Schönheits- und Rollenbildern des Internets entsprochen wird, als über die abgebildete Person.

Vom Leben und der Einzigartigkeit eines Menschen erfährt man in den gesichtslosen Portraitaufnahmen der Fotoworkshop viel mehr.

 

(c) Georg Oberweger


Der Autor Kurt Neuhold ist Leiter für den Bereich „Kunst im Grünen Kreis“. Der „Grüne Kreis“ bietet an fünf ambulanten Betreuungszentren und neun stationären Einrichtungen Behandlungs- und Betreuungsangebote für jede Form von Abhängigkeitserkrankungen. Ein multiprofessionelles Team aus den Bereichen Medizin, Psychotherapie, Klinische-Gesundheitspsychologie, Sozialarbeit, Pädagogik, Sozialpädagogik, Sport, Kunst und Kreativität sowie Handwerk ermöglicht Beratung und Betreuung von suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen aus ganz Österreich. Die Standorte der stationären Einrichtungen sind in Niederösterreich und der Steiermark.
Näheres dazu unter www.gruenerkreis.at/
Der Projektleiter Georg Oberweger ist freischaffender Fotograf und versteht sich als Kunstvermittler. Näheres zu seiner Arbeit und seinen Projekten unter www.georgoberweger.com
Alle Fotos sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht ohne Genehmigung des Fotografen Georg Oberweger verwendet oder veröffentlicht werden.

(c) Georg Oberweger

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(c) Georg Oberweger

 

(c) Georg Oberweger

Aug 20th, 2018 | By | Category: Beispiele für Fotoprojekte

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