Der achtsame Blick – Fotoworkshops mit suchtkranken Menschen

Ein Fotoprojekt im Rahmen von ‚Kunst im Grünen Kreis‘ in Niederösterreich

 

Ein Beitrag von Georg Oberweger

 

Der Filmkritiker und Schriftsteller Bela Balász meinte, dass jedes Bild eine Einstellung ausdrückt, dass jede Einstellung der Ausdruck einer Beziehung sei und dass jede Anschauung der Welt eine Weltanschauung enthält. Darum sagt ein bewusst aufgenommenes Foto genauso viel über den/die Fotograf:in aus, wie über das abgebildete Motiv.

Die Fotografie erlaubt uns also die Erfahrung zu machen, dass unser Blick auf die Welt einzigartig ist und uns von allen anderen unterscheidet. Und sie erlaubt uns zu erkennen, dass man diesen Blick, die Perspektive verändern oder gar erweitern kann, um Neues zu sehen oder um Dinge anders zu sehen.

 

Diese Erfahrungen konnten auch die Teilnehmer (es waren ausschließlich Männer) am Fotoworkshop “Der achtsame Blick” in zwei Therapiehöfen der Suchtkrankenorganisation “Grüner Kreis” im niederösterreichischen Voralpenland machen. “Kunst im Grünen Kreis erweitert das therapeutische, erlebnispädagogische und medizinische Behandlungsangebot des Vereins. Erfahrungen, die bei den einzelnen Aktionen gemacht werden, sollen Impulse für die professionelle therapeutische Arbeit beinhalten. Workshops und Aktionen sind gedacht als Anregung, die individuellen Fähigkeiten zu entwickeln und die Möglichkeiten und Freiräume der Kunst für eine konstruktive und lustvolle Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Lebens zu nutzen.” (Eigendefinition Grüner Kreis)

Die einzigen Voraussetzungen für die Teilnahme waren Offenheit, Neugierde und ein Smartphone.

Zweifel ist ein Bestandteil eines jeden kreativen Prozesses und im Rahmen des Workshops tauchte dieser auch auf. Jedoch lernten die Teilnehmer allmählich, ihr (ihnen bis dahin vielleicht unbekanntes) schöpferisches Potential wahrzunehmen oder es objektiv einzuordnen. Nicht zu bescheiden, nicht mit übertriebenem Selbstvertrauen. Inhaltlich befassten sie sich u.a. mit Themen wie Bildaufbau, Bildwirkung und Bildkomposition. Theoretisch dermaßen gerüstet ging es darum, konkrete oder vage Aufgabenstellungen wie z. B. “Eine dominante Farbe”, “Kontrast, “Ich sehe was, das Du nicht siehst”, “Dankeschön” oder ein frei gewähltes Thema zu visualisieren, es in Bilder zu übersetzen.

Klar erkennbare Prozesse durchzogen beide Workshops. Manche der Teilnehmer erkannten erst im Rahmen der Bildbesprechungen ihre visuellen Qualitäten, kamen dabei sozusagen sich selbst auf die Schliche oder erfuhren das durch die positiven Rückmeldungen der Gruppe. Sie konnten Geschichten und Zusammenhänge in ihren Bildern erkennen, die ihnen auf den ersten Blick noch verborgen geblieben waren. Fanden “Worte” für Dinge, die sie vorher nicht ausgesprochen hatten. So entwickelte sich allmählich eine spielerische Leichtigkeit innerhalb der Gruppe, die sich zunehmend in den Bildern wider spiegelte. Die Bandbreite der Arbeiten reichte von Landschafts- oder Blumenbildern bis hin zu autobiographischen, oft sehr intimen Inhalten. Manche Arbeiten verunsicherten die Betrachter:innen, indem die Fotos einem nicht genau sagten, warum sie überhaupt gemacht wurden oder warum sie genau so gemacht wurden.

Kunst erlaubt also auch reale Utopien, sie kann Zukunft erfinden und Vergangenes dokumentieren. Künstlerische Werke können sich emotional verankern und schaffen so auch persönliche Reflexionsräume. Mitunter auch eine tiefere Verbindung zu sich selbst. Die Aufnahme gut durchdachter Fotos kann uns aber auch in einen unvergleichlichen Zustand von Klarheit, Mitgefühl, Ruhe, Selbstreflexion und Selbstvertrauen versetzen. Ob das alles gelang, muss man wohl die Teilnehmer selbst befragen.

 


 

Der zweite Teil des Workshops befasste sich mit dem Thema “Maske”. Masken sind sowohl Verkleidung, als auch Vereinfachung, sie verleihen uns ein zweites Gesicht, verändern den Charakter, die Rolle, unser Verhalten oder das Geschlecht. Sie verleihen Macht oder geben uns der Lächerlichkeit preis. Ursprünglich diente die Maske rituellen und kultischen Handlungen, um spirituelle Verbindung zu Göttern, Natur und dem Universum aufnehmen zu können, zuletzt wurde sie uns aber zum profanen täglichen Begleiter.

 

Suchtkranke wiederum sind oft mit einem gesellschaftlichen Stigma konfrontiert, das Scham und Isolation zur Folge hat, aber auch oft das Tragen einer inneren Maske erfordert. Das in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende Bild von Suchtkranken setzt sich nach wie vor aus Stereotypen zusammen. Der Fotoworkshop bietet einen sicheren Raum, sich diesem Thema anzunähern, ohne explizit auf individuelle Lebensgeschichten einzugehen. Dafür zeigt er auf eine abstrahierte Art und Weise Lösungen und Bilder, die verunsichern, zum Nachdenken anregen, provozieren oder gar Leerstellen füllen.

 

 

 

Der Grüne Kreis – Hilfe für suchtkranke Menschen

Seit 1983 steht der Verein Grüner Kreis für die Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen und bietet als führende Einrichtung in Österreich bei Abhängigkeitsproblemen rasche und professionelle Hilfe. Ziel des Vereins ist, suchtkranken Menschen den Weg in ein selbstbestimmtes, sozial integriertes und weitgehend suchtfreies Leben zu ermöglichen. Mehr Infos zum Verein und den Kunstprojekten finden sich unter https://gruenerkreis.at/de/kunst-gruenen-kreis.

 


 

Autor: Georg Oberweger

1961 in Salzburg geboren. Georg Oberweger lebt und arbeitet seit 2011 als freier Fotograf, Kunstvermittler und Dozent der Erwachsenenbildung in Wien. Fotografische Schwerpunkte sind Reportagen, Dokumentationen sowie freie Arbeiten mit vorwiegend gesellschaftspolitischen Inhalten, die ungewohnte Perspektiven eröffnen und gewohnte Sichtweisen hinterfragen.

Mehr über Georg Oberweger: https://www.georgoberweger.com/

 

 

Erstveröffentlichung des Beitrags: 15.11.2024

Nov 8th, 2024 | By | Category: Beispiele für Fotoprojekte

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